
Debt-to-GDP: Wie viel Schulden kann ein moderner Staat tragen?
Debt-to-GDP: Wie viel Schulden kann ein moderner Staat tragen?
Eine der grundlegendsten Fragen der modernen Finanzpolitik lautet: Wie viel Staatsschulden sind eigentlich tragbar? Ist eine hohe Verschuldung automatisch ein Grund zur Sorge – oder können moderne Volkswirtschaften mehr Schulden aufnehmen, als wir gemeinhin glauben?
Als Volkswirt, Regulierungsexperte und Professor für Finanzmärkte an der Universität Frankfurt habe ich die letzten zwei Jahrzehnte meines beruflichen Lebens der nüchternen Analyse solcher Fragen gewidmet. In diesem Artikel untersuchen wir die sogenannte Debt-to-GDP-Ratio – also das Verhältnis von Staatsverschuldung zum Bruttoinlandsprodukt – und was sie tatsächlich über die finanzielle Gesundheit eines Staates aussagt.
Was bedeutet die Debt-to-GDP-Ratio?
Die Debt-to-GDP-Ratio (deutsch: Schuldenquote) misst den Anteil der Staatsverschuldung im Vergleich zur gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung eines Landes (BIP). Eine Schuldenquote von 100 % bedeutet, dass die Staatsschulden dem Wert aller Güter und Dienstleistungen entsprechen, die ein Land in einem Jahr produziert.
Diese Kennzahl wird weltweit verwendet, um die fiskalische Stabilität eines Landes zu beurteilen. Doch ein hoher Wert ist keineswegs per se alarmierend – vielmehr hängt seine Aussagekraft stark vom Kontext ab.
Ein Zahlenbeispiel:
- Land A hat ein BIP von 1 Billion Euro und Staatsschulden von 500 Milliarden Euro. Das ergibt eine Debt-to-GDP-Ratio von 50 %.
- Land B hat ein BIP von 2 Billionen Euro, aber Schulden von 2,2 Billionen Euro – also eine Quote von 110 %.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, Land B steuert auf die Insolvenz zu. Doch das ist zu einfach gedacht. Kommen wir zu den tieferliegenden Zusammenhängen.
Warum eine hohe Schuldenquote nicht gleichbedeutend mit Gefahr ist
Wer in Panik verfällt, nur weil die 60 %-Grenze des Maastricht-Vertrags überschritten wurde, sollte einen Blick auf Länder wie Japan oder die USA werfen. Der japanische Staat etwa weist eine Schuldenquote von über 250 % auf – und doch gilt Japan nicht als hochriskante Volkswirtschaft.
Wie kommt das? Nun, es gibt mehrere Gründe:
1. Vertrauen der Kapitalmärkte
Sind Investoren überzeugt, dass ein Staat seine Schulden bedienen kann und stabile politische sowie ökonomische Rahmenbedingungen herrschen, steigt auch bei hoher Verschuldung nicht automatisch die Risikoprämie. Mit anderen Worten: Der Staat kann sich weiterhin günstig finanzieren.
2. Eigene Währung und Zentralbank
Länder mit einer eigenen Währung und einer souveränen Zentralbank – wie Japan oder Großbritannien – haben einen wichtigen Vorteil: Sie können theoretisch Geld “drucken”, um ihre Schulden zu bedienen. Das ist zwar kein Freibrief für exzessive Ausgaben, reduziert aber das Ausfallrisiko.
3. Inflation und Wachstum
Eine der subtileren Beobachtungen ist, dass Schulden viel annehmbarer wirken, wenn das BIP schnell wächst. Ein Staat mit 120 % Verschuldung kann auf 90 % zurückfallen, wenn das BIP wächst, selbst wenn die Schulden konstant bleiben. Daraus ergibt sich ein einfacher, aber wichtiger Schluss: Wachstum kann Schulden relativieren.
Die Rolle der Fiskalpolitik: Zwischen Keynes und Konsolidierung
Die Fiskalpolitik moderner Staaten bewegt sich zwischen zwei Polen: dem keynesianischen Ansatz, der in Krisenzeiten expansive Ausgaben rechtfertigt, und fiskalischer Konsolidierung, die auf langfristige Stabilität und Schuldenabbau zielt.
In Zeiten wirtschaftlicher Abschwächung lohnt sich staatliche Verschuldung, da sie Nachfrage stabilisieren kann – ein Aspekt, den der Ökonom John Maynard Keynes in den 1930er-Jahren betonte. Das Problem ist jedoch das politische Umsetzungsdefizit: In guten Zeiten wird selten gespart. Oder, wie ich es in meinen Vorlesungen gerne sage:
„Politiker investieren gerne in Brücken in der Krise, vergessen aber, ihre Kreditkarte in Boomzeiten zu zerschneiden.“
Historische Beispiele: Lernen aus der Vergangenheit
Ein Blick in die Geschichte hilft, das Thema nüchtern zu betrachten.
- Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Mit einer Schuldenquote von über 200 % und einer Hyperinflation im Rücken war die Lage katastrophal. Doch ein Schuldenschnitt (Londoner Schuldenabkommen) und jahrzehntelanges Wachstum führten das Land wieder auf soliden Boden.
- Griechenland in der Eurokrise: Hier wurde offensichtlich, dass fehlende Währungsautonomie ein Problem darstellen kann. Die Schuldenquote kletterte auf über 180 %, gefolgt von einem tiefen wirtschaftlichen Einbruch. Die Austeritätspolitik dieser Zeit bleibt wirtschaftspolitisch umstritten.
- USA und Japan heute: Trotz hoher Schuldenquoten keine Probleme bei der Emission neuer Anleihen – dank Vertrauen, Währungssouveränität und niedriger Zinsen.
Grenzen der Schuldenaufnahme: Was ist „zu viel“?
Die unangenehme Wahrheit: Es gibt keine exakte Obergrenze. Weder 60 %, noch 90 % oder 150 % sind magische Schwellen. Das zeigt auch eine bekannte Studie von Reinhart und Rogoff aus dem Jahr 2010, die zunächst 90 % als kritischen Punkt identifizierte – sich jedoch später aufgrund von Datenfehlern relativierte.
Statt dogmatischen Zahlen sind folgende Faktoren relevante Entscheidungskriterien:
- Höhe der Zinsen auf neue Schulden
- Erwartetes Wirtschaftswachstum
- Glaube an fiskalische Disziplin
- Demografische Entwicklung (Stichwort: alternde Gesellschaften)
- Externe Schocks wie Pandemien oder Kriege
All diese Elemente sollten in eine nachhaltige Schuldenstrategie einfließen – ohne sich an fiktive Schwellenwerte zu klammern.
Fazit: Schuldentragfähigkeit ist eine dynamische Größe
Was also ist die Antwort auf unsere Ausgangsfrage? Wie viele Schulden kann ein moderner Staat tragen?
Meine akademisch-politisch-formulierte Antwort lautet: Es kommt darauf an.
Genauer gesagt: Es hängt von Vertrauen, Wachstum, Währungspolitik und makroökonomischer Steuerung ab. Schulden sind kein Selbstzweck – und nicht per se schlecht. Richtig eingesetzt – etwa für Zukunftsinvestitionen – können sie sich sogar „selbst finanzieren“.
Drei Kernbotschaften zum Mitnehmen:
- Die Schuldenquote allein sagt wenig über die tatsächliche Tragfähigkeit eines Staates aus.
- Wichtiger sind Zinsniveau, wirtschaftliches Wachstum und institutionelles Vertrauen.
- Langfristige Stabilität verlangt einen ausgewogenen Mix aus Investitionen und haushaltspolitischer Verantwortung.
Wenn Sie mehr über fiskalische Regeln, Finanzmärkte oder Regulierungsmaßnahmen in Europa erfahren möchten, werfen Sie gerne einen Blick auf unsere Über-uns-Seite oder treten Sie mit uns in Kontakt.
Ihr,
Prof. Dr. Klaus-Werner Schneider
Lehrstuhl Finanzmärkte & Regulierung
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