Der TARGET2-Saldo: Ein unterschätztes Stabilitätsrisiko für den Euro?

Der TARGET2-Saldo: Ein unterschätztes Stabilitätsrisiko für den Euro?

In der öffentlichen Diskussion über die Stabilität des Euro wird häufig über Inflation, Staatsverschuldung und Preisniveaustabilität gesprochen. Kaum Aufmerksamkeit jedoch erhält ein Thema von immenser Tragweite: die TARGET2-Salden im Eurosystem. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein technisches Nischenthema für Zentralbankexperten, sondern um ein zentrales Element im Herzen der europäischen Geldarchitektur. Wer, wie ich, seit Jahrzehnten die Finanzmärkte und ihre regulatorischen Grundlagen beobachtet, erkennt darin eine tickende Uhr – leise, aber unaufhaltsam.

Was ist TARGET2 eigentlich?

TARGET2 (Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System) ist ein Zahlungsverkehrssystem, das grenzüberschreitende Überweisungen in Echtzeit innerhalb der Eurozone ermöglicht. Es wird von der Europäischen Zentralbank (EZB) und den nationalen Zentralbanken betrieben. In der Theorie handelt es sich um ein bloßes Verrechnungssystem zur Erleichterung von Transaktionen – doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail.

Salden als Ausdruck ökonomischer Ungleichgewichte

Die Salden, die innerhalb von TARGET2 entstehen, spiegeln wirtschaftliche Ungleichgewichte wider. Wenn beispielsweise ein deutscher Exporteur Waren an Italien liefert und der italienische Käufer bei einer lokalen Bank bezahlt, wird das Geld über das italianische Bankensystem zur deutschen Bundesbank transferiert – mit TARGET2 als vermittelndem System. Hat Italien mehr Importe als Exporte gegenüber Deutschland, bauen sich negative TARGET2-Salden bei der Banca d’Italia auf, während die Bundesbank Überschüsse hält.

Aktuell liegt der TARGET2-Saldo der Deutschen Bundesbank bei über einer Billion Euro. Ja – Billion. In diesem Kontext fragt sich auch der Laie zurecht: Wer garantiert eigentlich die Rückzahlung, wenn es zu einem Austritt eines Mitgliedslandes kommt oder – Gott bewahre – einem Zahlungsausfall?

Ein Problem struktureller Natur

Kapitalflüsse statt Warenströme

Ursprünglich sollte TARGET2 Zahlungsströme aus dem Handel spiegeln, doch spätestens seit der Eurokrise haben sich strukturelle Verzerrungen eingeschlichen. Kapital fließt vermehrt von den „Kernländern“ der Eurozone (wie Deutschland und den Niederlanden) in die Peripherie (wie Italien, Spanien oder Griechenland), oft ausgelöst durch Misstrauen in die wirtschaftliche Stabilität der Empfängerländer. Dieses Kapital sucht dann Sicherheit – meist in Form von Anleihen oder Bankeinlagen in stabileren Regionen.

Das Problem dabei: Diese Bewegungen verlassen buchstäblich den monetären „Käfig“ der Peripherie und schlagen sich als TARGET2-Salden in den Zentralbankbilanzen nieder. Es entstehen systemische Ungleichgewichte innerhalb des Eurosystems, die durch keine vertragliche Rückzahlungsstruktur abgesichert sind.

Warum das ein Stabilitätsrisiko darstellt

Man könnte argumentieren, dass es sich bei TARGET2 lediglich um interne Buchungen handelt, die in einem solidarischen Währungsverbund keine Rolle spielen sollten. Doch das ist ein Irrtum – und zwar ein gefährlicher.

  • Fehlende Besicherung: Die aufgelaufenen Salden sind nicht durch Sicherheiten gedeckt. Kommt es zu Turbulenzen oder einem Austritt eines Krisenlandes, besteht ein reales Verlustrisiko für Gläubigerländer.
  • Fehlender politischer Wille: Weder in Brüssel noch in Frankfurt scheint man bereit, das Thema offen anzusprechen. Es wird de facto auf Zeit gespielt.
  • Verlorenes Vertrauen der Bürger: Gerade in Ländern wie Deutschland wird zunehmend infrage gestellt, warum Milliardenbeträge „im Nirwana“ verschwinden, während vor Ort über Schuldenbremse und Sparmaßnahmen diskutiert wird.

Die ökonomische Bewertung

Ökonomisch neutral – aber nur in der Theorie

Befürworter der derzeitigen Regelung argumentieren, dass TARGET2-Salden langfristig durch ökonomisches Wachstum, Rückflüsse aus Handel und Kapitalbewegungen wieder ausgeglichen würden. Diese Einschätzung basiert jedoch auf der Annahme eines nie endenden Integrationsprozesses und makroökonomischer Konvergenz – beides Konzepte, die spätestens seit der Eurokrise ins Wanken geraten sind.

Die Realität sieht vielmehr so aus:

  1. Strukturschwache Länder verzeichnen chronische Leistungsbilanzdefizite.
  2. Kapital verlässt diese Länder regelmäßig in Richtung Norden.
  3. Die EZB gestattet diesen Abfluss de facto unbegrenzt und zum Nulltarif, da die Zentralbanken der Gläubigerländer lediglich Forderungen gegenüber dem Eurosystem verbuchen.

Mit anderen Worten: Hier wird ein impliziter Transfermechanismus aufgebaut – nur ohne politisches Mandat oder Finanzierung aus Staatshaushalten. Ein demokratischer Blackbox-Prozess, wenn man so will.

Wirtschaftsethik und politische Verantwortung

Als Ökonom und Hochschullehrer mit zwei Jahrzehnten Erfahrung in monetärer Ökonomie bin ich der Meinung, dass wir uns nicht länger hinter technokratischer Sprache verstecken dürfen. Die Bürgerinnen und Bürger Europas haben ein Recht darauf zu erfahren, wie es um ihre Währung steht – und welche Risiken in Finanzstrukturen wie TARGET2 verborgen liegen.

Mögliche Reformansätze

Es gibt verschiedene Reformvorschläge, die bisher aber allesamt politischen Widerstand erfahren haben. Einige davon sind:

  • Besicherung von TARGET2-Forderungen durch vertraglich verbriefte Sicherheiten (z. B. durch Staatsanleihen oder Goldreserven).
  • Begrenzung der Saldenhöhe, ab der automatisch Ausgleichszahlungen getätigt werden müssen.
  • Berichtspflichten gegenüber dem Europaparlament, um demokratische Transparenz zu schaffen.
  • Konsequente wirtschaftspolitische Koordination, um strukturelle Ungleichgewichte zu beheben.

Fazit: Zeit, alte Tabus zu brechen

Der TARGET2-Saldo ist kein unschuldiger Zahlenspielraum, sondern Ausdruck tiefer struktureller Spannungen im Euroraum. Ignorieren wir ihn weiter, setzen wir das Vertrauen in unsere gemeinsame Währung auf’s Spiel. Es braucht den Mut zur Debatte und die Bereitschaft, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen.

Wir dürfen nicht vergessen: Monetäre Solidität ist kein Automatismus, sondern das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen, harter Arbeit und ehrlicher Kommunikation. Je länger wir aber zu TARGET2 schweigen, desto höher das Risiko, dass der Euro sein Fundament auf wackeligem Untergrund baut.

Bei Fragen, Anregungen oder Diskussionsbeiträgen stehe ich Ihnen als langjähriger Beobachter der europäischen Geldarchitektur gerne zur Verfügung. Kontaktieren Sie mich gerne über unsere Kontaktseite.

Weitere Informationen über meine Arbeit finden Sie auch auf unserer Über-uns-Seite.

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Finanzwissenschaftler mit jahrzehntelanger Erfahrung in Forschung und Beratung. Spezialist für Steuerpolitik und Regulierung, stark analytisch denkend und engagiert für monetäre Stabilität. Veranstaltet Seminare zu Finanzethik und hostet Fachwebinare über Makrotrends.

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