Europäische Kapitalmarktunion: Die große Vision und ihr regulatorischer Realitätstest

Europäische Kapitalmarktunion: Die große Vision und ihr regulatorischer Realitätstest

Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 träumt Europa von einem vertieften, integrierten Kapitalmarkt: der Kapitalmarktunion. Ihr Ziel? Unternehmen, insbesondere KMU, besseren Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten bieten, Investitionen zu fördern sowie die wirtschaftliche Resilienz gegenüber zukünftigen Krisen zu stärken. So weit die Vision. Doch wie sieht die Realität aus?

Als ehemaliger Vorsitzender des Ausschusses für Marktintegration und nunmehr emeritierter Professor der Finanzmärkte betrachte ich die Kapitalmarktunion nicht nur mit analytischem Blick, sondern auch mit einem leichten Stirnrunzeln – sie ist ein Paradebeispiel europäischer Ambition gepaart mit administrativer Wirklichkeit.

Der Ursprung einer großen Idee

Die Kapitalmarktunion wurde 2015 von der Europäischen Kommission ins Leben gerufen. Damals versprach man nicht weniger als eine europaweite Finanzrevolution. Ziel war es, die Kapitalmärkte der Mitgliedstaaten stärker zu integrieren, Abhängigkeiten von Banken zu reduzieren und grenzüberschreitende Investitionen zu erleichtern.

Die Logik dahinter war – und ist – bestechend:

  • Stärkung der Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen jenseits von Bankkrediten
  • Verbesserung der Risikodiversifizierung durch grenzüberschreitende Investitionen
  • Förderung eines stabileren und widerstandsfähigeren Finanzsystems
  • Vereinheitlichung regulatorischer Rahmenbedingungen

Doch um es mit einem Goethe-Zitat zu sagen: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie.“

Die regulatorische Herausforderung – ein Flickenteppich wird nicht zur Decke

Was uns in der Theorie als einheitlicher Kapitalmarkt präsentiert wurde, entpuppte sich in der Praxis als erstaunlich hartnäckiger regulatorischer Flickenteppich. Die Heterogenität nationaler Vorschriften ist nach wie vor eklatant. Nationale Aufsichtsbehörden beharren auf Eigenständigkeit, steuerliche Rahmenbedingungen divergieren erheblich, und die Umsetzung europäischer Maßnahmen verläuft höchst ungleichmäßig.

Beispiel: Prospektrecht

Ein Paradebeispiel ist das Prospektrecht. Die Prospektverordnung sollte die grenzüberschreitende Kapitalaufnahme vereinfachen. Doch aufgrund nationaler Ausnahmeregelungen und unterschiedlich gehandhabter Prüfungsverfahren werden Emissionen in anderen EU-Staaten oft weiterhin als bürokratisches Minenfeld empfunden.

Beispiel: Insolvenzrecht

Ein weiteres Hindernis stellt das Insolvenzrecht dar. Unternehmerisches Risiko kann nur dann sinnvoll eingepreist werden, wenn Anleger wissen, was im Ernstfall mit ihrem Kapital geschieht. Doch während in einigen Mitgliedsstaaten die Entschuldung innerhalb weniger Jahre möglich ist, stecken Unternehmen anderswo über ein Jahrzehnt in Sanierungsverfahren fest. Die Folge: Investoren meiden vielversprechende Märkte aus reiner Unsicherheit.

Fortschritte? Ja. Durchbrüche? Nein.

Natürlich gab es seit 2015 Fortschritte. So zählen dazu unter anderem:

  1. Die Einführung des einheitlichen EU-Prospekts
  2. Die Verbesserung der Verbriefungsstandards
  3. Die Schaffung des paneuropäischen privaten Pensionsprodukts (PEPP)
  4. Die Etablierung der Capital Markets Union 2.0

Doch der ganz große Wurf blieb bislang aus. Wesentliche strukturelle Herausforderungen werden weiterhin nur zögerlich angegangen.

Der jüngste Aktionsplan der Kommission aus dem Jahr 2020 umfasst 16 Maßnahmen, darunter die Stärkung der einheitlichen EU-Aufsicht, die Digitalisierung der Kapitalmärkte sowie eine stärkere Finanzbildung der Bevölkerung. Ambitioniert? Ohne Zweifel. Wirksam? Die Zeit wird es zeigen.

Der Brexit als Katalysator einer neuen Dynamik?

Mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs verlor die EU ihren bislang größten und am weitesten entwickelten Kapitalmarkt. Ironischerweise hat genau dieser Rückschlag dazu geführt, dass Brüssel mehr Druck verspürt, die verbleibenden 27 Kapitalmärkte effizienter zusammenzuführen.

Doch selbst nach dem Brexit bleibt London ein attraktiver Kapitalmarktplatz – was die Dringlichkeit einer echten europäischen Alternative unterstreicht. Politisch herrscht Konsens, wirtschaftlich besteht Bedarf. Was fehlt? Mut und Durchsetzungskraft.

Eine Frage der Governance

Die Kapitalmarktunion wird nicht an politischem Willen scheitern – sondern an institutioneller Fragmentierung. Die Zuständigkeiten zwischen nationalen Aufsichtsbehörden, der Europäischen Kommission, der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) und der Europäischen Zentralbank sind zu verstreut.

Was es braucht, ist eine klare Governance-Struktur mit kompetenzübergreifender Aufsicht. Selbstverständlich unter Wahrung der nationalen Souveränitätsinteressen – aber mit mehr Mut zur gemeinsamen Verantwortung.

Finanzbildung: Das vergessene Element

Eines der am meisten unterschätzten Elemente der Kapitalmarktunion ist die Bevölkerung selbst. Ohne ein Mindestmaß an Finanzbildung bleibt jede Bemühung um breitere Beteiligung am Kapitalmarkt reiner Wunschtraum.

Wer in Europa über Eigenkapital statt Schulden nachdenkt, wird häufig von regulatorischen Hemmnissen und Bildungsdefiziten gleichermaßen gebremst. Es wäre an der Zeit, Finanzbildung zu einem integralen Bestandteil der EU-Kapitalmarktstrategie zu machen – in Schulen, Universitäten, aber auch über öffentliche Informationskampagnen.

Resümee: Zwischen Utopie und hausgemachtem Realismus

Die Kapitalmarktunion bleibt ein faszinierendes polit-ökonomisches Projekt. Sie zeigt, dass Europa mehr will als Integration auf dem Papier. Doch sie zeigt auch die Grenzen dieser Ambitionen, wenn nationale Egoismen und regulatorische Trägheit konstruktive Umsetzung verhindern.

Ein echter europäischer Kapitalmarkt ist denkbar – und erreichbar. Aber nur, wenn wir bereit sind, liebgewonnene nationale Unterschiede kritisch zu hinterfragen und sie dort aufzugeben, wo sie echten Fortschritt blockieren.

Oder, um es in Anlehnung an Churchill zu sagen: „Europa wird nie eine Kapitalmarktunion haben. Es sei denn, es gibt keine andere Möglichkeit.“

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Finanzwissenschaftler mit jahrzehntelanger Erfahrung in Forschung und Beratung. Spezialist für Steuerpolitik und Regulierung, stark analytisch denkend und engagiert für monetäre Stabilität. Veranstaltet Seminare zu Finanzethik und hostet Fachwebinare über Makrotrends.

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