
Finanzmarktarchitektur: Warum Systemrelevanz neu bewertet werden sollte
Finanzmarktarchitektur: Warum Systemrelevanz neu bewertet werden sollte
In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff der Systemrelevanz oft wie eine selbstverständliche Wahrheit behandelt – als sei vollkommen klar, welche Institutionen und Strukturen in unserem Finanzsystem unverzichtbar sind. Doch diese Annahme täuscht. Der Begriff ist diffus, historisch belastet und wird selten kritisch hinterfragt. Es ist an der Zeit, die Systemrelevanz innerhalb der Finanzmarktarchitektur neu zu bewerten – analytisch, normativ und nicht zuletzt politisch.
Systemrelevanz – ein Begriff mit Geschichte (und Tücken)
Die Vorstellung von Systemrelevanz hat spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008 Eingang in das kollektive wirtschaftspolitische Denken gefunden. Damals hieß es plötzlich, bestimmte Banken seien „too big to fail“, also zu groß (und zu stark vernetzt), um pleitezugehen – andernfalls drohe der Zusammenbruch des gesamten Systems.
Diese Argumentation führte zu milliardenschweren Rettungspaketen, die bei nicht wenigen Bürgerinnen und Bürgern Kopfschütteln auslösten. Der Staat musste eingreifen, um die Stabilität der Finanzmärkte zu sichern – ein klassischer Zielkonflikt zwischen Marktlogik und Systemstabilität.
Wie Systemrelevanz traditionell definiert wurde
Bisherige Ansätze klassifizieren Institutionen meist nach Kriterien wie:
- Größe (Bilanzsumme, Marktkapitalisierung)
- Verschränkung mit anderen Finanzakteuren (Interkonnektivität)
- Substituierbarkeit (Gibt es alternative Anbieter?)
- Komplexität der Geschäftsmodelle
- Grenzüberschreitende Aktivitäten (Systemrisiken im internationalen Kontext)
Diese Kriterien sind zwar nachvollziehbar, doch sie greifen zu kurz. Sie erfassen nur das institutionelle Risiko und vernachlässigen strukturelle, soziale und technologische Dimensionen, die bereits heute enormen Einfluss auf das Funktionieren der Finanzmärkte haben.
Finanzmärkte 2024: Ein neues Gefüge von Risiken
Wir leben nicht mehr im Finanzsystem von 2008. Die Finanzmarktarchitektur hat sich grundlegend verändert – und damit auch die Fragestellung, was eigentlich „systemrelevant“ ist. Neue Technologien, dezentrale Finanzstrukturen (DeFi) und die zunehmende Bedeutung nicht-banklicher Akteure (z. B. Schattenbanken, BigTechs) stellen die klassische Sichtweise infrage.
Neue Player, neue Risiken
Digitale Plattformunternehmen wie Google, Apple oder Amazon bieten mittlerweile Zahlungsdienste, Kredite und sogar Vermögensverwaltung an – allerdings oft außerhalb des regulierten Bankensektors. Ihre enorme Reichweite, Datenmacht und Kundenbindung könnten sie in naher Zukunft zu systemrelevanten Akteuren machen, ohne dass entsprechende Kontrollmechanismen greifen.
Auch dezentrale Finanzlösungen – auf der Blockchain basierende Protokolle wie Aave oder MakerDAO – stellen regulatorische Herausforderungen dar. Ihre Bedeutung wächst, ihre Risiken sind real – und dennoch stehen sie außerhalb traditioneller Aufsicht.
Warum eine Neubewertung überfällig ist
Die aktuelle Definition von Systemrelevanz spiegelt die Vielfalt und Dynamik der heutigen Finanzmärkte nicht mehr adäquat wider. Sie führt zu einer regulatorischen Schieflage, bei der bekannte Banken scharf überwacht werden, während neue, potenziell ähnlich gefährliche Strukturen unter dem Radar operieren.
Was fehlt? Drei Perspektiven zur Neujustierung
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Systemrelevanz jenseits der Institution:
Es ist nicht nur die einzelne Bank oder Plattform, die zählt – sondern die Infrastruktur. Zahlungsverkehrssysteme, Cloud-Dienste für Banken oder Datenaggregatoren können ebenfalls kritische Funktionen erfüllen. Wer kontrolliert die Cloud-Provider? Wer überwacht API-gestützte Kreditvergabe via Drittanbieter?
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Systemrelevanz als soziales Konzept:
Systemrelevanz ist nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich definiert. Wenn Kreditvergabe, Altersvorsorge oder Zahlungssysteme nicht mehr funktionieren, gefährdet das nicht nur Märkte, sondern auch sozialen Zusammenhalt. Hier braucht es eine robuste Debatte über zentrale Grundfunktionen einer demokratisch legitimierten Finanzordnung.
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Systemrelevanz im technologischen Wandel:
Technologien entwickeln sich schneller als Gesetze. Daher braucht es eine regulative Frühwarnarchitektur, die neue Risiken erkennt, bevor sie systemisch werden. Dazu gehört auch ein intensiver Austausch zwischen Aufsehern, Wissenschaft und Tech-Industrie.
Wie Regulierung darauf reagieren sollte
Eine Neubewertung der Systemrelevanz muss mit konkreten Maßnahmen einhergehen – angefangen bei der Anpassung regulatorischer Schwellenwerte bis hin zur Ausweitung der Aufsichtsbefugnisse über technologische Dienstleister.
Empfehlungen für eine moderne Regulierungsarchitektur
- Einführung eines dynamischen Klassifikationssystems für Systemrelevanz, das regelmäßig aktualisiert wird
- Einbindung technologischer Infrastrukturen (z. B. Cloud, KI-Plattformen) in die Finanzstabilitätsüberwachung
- Schaffung einer europäischen oder globalen Koordinierungsstelle für systemrelevante Nicht-Banken
- Verstärkung der Supervisory Technology („SupTech“) für bessere Datenanalysen und Echtzeit-Risikoerkennung
Fazit: Systemrelevanz ist kein Naturgesetz
Der Begriff der Systemrelevanz ist keine statische Kategorie, sondern ein politisch-normatives Konstrukt. Wer systemrelevant ist und warum, entscheidet nicht der Markt allein, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes. In einer Zeit, in der Finanzen, Technologie und öffentlicher Raum zunehmend verschmelzen, muss der Begriff neu gedacht werden – mutig, vorausschauend und mit dem Mut zur Regulierung.
Es geht nicht darum, Institutionen größer oder kleiner zu machen – sondern darum, das System resilienter und demokratischer zu gestalten. Und das beginnt mit der ehrlichen Frage: Wer ist heute wirklich unverzichtbar für die Stabilität unseres Finanzsystems – und wer wird es vielleicht morgen sein?
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