
Fiskalregeln neu denken: Vorschläge für ein post-neoliberales Europa
Fiskalregeln neu denken: Vorschläge für ein post-neoliberales Europa
Inmitten multipler Krisen – von der Pandemie über wirtschaftliche Schocks bis hin zu geopolitischen Spannungen – zeigt sich deutlich, dass die alten fiskalpolitischen Glaubenssätze Europas erschöpft sind. Die Austeritätspolitik vergangener Jahrzehnte hat zwar Defizite beschnitten, aber sozialen Wohlstand, ökologische Transformation und wirtschaftliche Resilienz vernachlässigt. Die Zeit ist reif für ein Umdenken.
Als Professor für Europäische Makroökonomie und ein Freund klarer Worte muss ich sagen: Ein post-neoliberales Europa benötigt neue fiskalische Spielregeln, die nicht von schulmeisterlichem Sparzwang, sondern von Vernunft, Nachhaltigkeit und demokratischer Verantwortlichkeit getragen sind.
Die Grenzen des bisherigen Fiskalrahmens
Die Maastricht-Kriterien – ein Relikt vergangener Zeiten?
Die EU-Mitgliedstaaten verpflichten sich seit dem Vertrag von Maastricht, eine Neuverschuldung von maximal 3 % des BIP und eine Gesamtverschuldung von höchstens 60 % des BIP einzuhalten. Diese Regeln mögen in den 1990er Jahren sinnvoll erschienen sein, spiegelten jedoch eine Zeit wirtschaftlicher Hochkonjunktur mit Kapitalmarktoptimismus und der Vorstellung wider, dass Märkte sich selbst regulieren.
Heute stellen sich jedoch Fragen, die damals ausgeblendet wurden:
- Was, wenn massive öffentliche Investitionen nötig sind, um Klima- und Digitalwandel zu stemmen?
- Wie sinnvoll ist es, „gute Schulden“ (z. B. für grüne Infrastruktur) genauso zu behandeln wie konsumtive Ausgaben?
- Und: Wer schützt die Demokratien vor einem Fiskalrahmen, der soziale Spaltung verschärft?
Prozyklische Regelwut und politische Folgen
Ironischerweise verstärken die jetzigen fiskalpolitischen Regeln oft genau die Krisen, die sie vermeiden sollen. Die Verpflichtung zum Sparen in wirtschaftlichen Abschwungphasen führt zu einer prozyklischen Fiskalpolitik, durch die Wachstum weiter gehemmt wird. Besonders in südlichen EU-Staaten wie Griechenland, Italien oder Spanien haben Sparvorgaben nicht nur die Wirtschaft erdrückt, sondern auch antieuropäische Kräfte gestärkt.
Es ist schlicht ökonomischer Irrsinn, in Rezessionen staatliche Ausgaben zu kürzen. Jeder Ökonomie-Studierende im vierten Semester würde hier einwenden: Jetzt wäre eine keynesianisch angelegte expansive Politik gefragt!
Vorschläge für eine neue Fiskalarchitektur
1. Qualität der Ausgaben statt starrer Defizitgrenzen
Anstatt fixierter Prozentgrenzen sollte die europäische Fiskalpolitik nach der Qualität und dem Ziel öffentlicher Ausgaben beurteilt werden. Investitionen in Bildung, Forschung, Digitalinfrastruktur und Klimaschutz sollten als zukunftsfördernde Ausgaben betrachtet werden – und damit budgetär begünstigt werden.
Konkreter Vorschlag:
- Eine Goldene Regel für öffentliche Investitionen, d. h. Defizitregeln gelten nur für konsumtive Ausgaben – nicht für investive.
- Ein unabhängiger europäischer Rat für Investitionsqualität, der Projekte wirtschaftlich und ökologisch bewertet.
2. Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist heute ein bürokratisches Monstrum, das kreative Fiskalpolitik lähmt. Es braucht einfachere, transparentere Regeln mit Spielräumen für wirtschaftliche Lagebeurteilungen.
Vorgeschlagene Maßnahmen:
- Abschaffung der strukturellen Defizitgrenzen, die auf zweifelhaften Output-Gap-Schätzungen beruhen.
- Einführung von Ex-Post-Bewertungen: Staaten dürfen bei Bedarf höhere Defizite fahren, werden jedoch im Nachhinein auf Zieltreue und Impact evaluiert.
- Demokratische Kontrolle: Das Europaparlament muss stärker in fiskalpolitische Entscheidungen eingebunden werden.
3. Einführung eines europäischen Investitionsfonds
Für ein solidarisches und zukunftsfähiges Europa braucht es einen gemeinsamen finanziellen Hebel, vergleichbar mit dem Corona-Wiederaufbaufonds („NextGenerationEU“), jedoch dauerhaft institutionell verankert.
Dieser Fonds sollte:
- Mit Eigenmitteln der EU (z. B. Digitalsteuer, CO₂-Grenzausgleichssystem) gespeist werden
- Nach objektiven Kriterien (z. B. CO₂-Effizienz, Beschäftigungseffekt) Projekte priorisieren
- Größeren Ländern keinen strukturellen Vorteil verschaffen
Ökonomisches Fundament: Post-Neoliberalismus mit Kompass
Was bedeutet “post-neoliberal” konkret?
Post-neoliberale Fiskalpolitik bedeutet, dass sich der Staat nicht länger primär als Kostenfaktor versteht, sondern als aktiver Gestalter von Märkten, Innovation und Gerechtigkeit. Dies basiert auf vier Leitprinzipien:
- Resilienzorientierung: Vorrang für langfristige Stabilität statt kurzfristiger Budgetziele
- Nachhaltigkeit: Investitionen in die Transformation unserer Wirtschaft statt Rückbau des Sozialstaats
- Equity: Fiskalpolitik darf nicht soziale Spaltung vertiefen, sondern muss Teilhabe ermöglichen
- Demokratiekompatibilität: Fiskalregeln müssen politisch legitimierbar und anpassbar bleiben
Was wäre die Rolle Deutschlands?
Deutschland, als wirtschaftliches Schwergewicht Europas, trägt besondere Verantwortung. Der oft dogmatische Fiskalkonservatismus made in Berlin ist nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen braucht es eine Führung, die ökonomischen Sachverstand mit Verantwortung verbindet. Die Schuldenbremse ist kein Naturgesetz, sondern politische Setzung. Und Setzungen lassen sich überdenken – wie der Titel dieses Artikels andeutet.
Fazit: Ein neuer europäischer Fiskalpakt für das 21. Jahrhundert
Ein post-neoliberales Europa braucht keine fiskalische Anarchie, aber auch keine Knebelverträge für Sozialstaaten. Was wir benötigen, ist eine moderne, wachstumsfreundliche, nachhaltige Regelarchitektur, die ehrgeizige Investitionen ermöglicht, fiskalische Verantwortung wahrt und demokratisch legitimiert ist.
Der Umbau unseres Kontinents zur klimaneutralen Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts gelingt nicht durch Sparen, sondern durch kluge Ausgaben. Öffentliche Investitionen sind kein Luxus, sondern die Voraussetzung für zukünftigen Wohlstand.
Es ist Zeit, fiskalpolitische Dogmen zu hinterfragen – im Dienst eines handlungsfähigen, sozialen und zukunftsorientierten Europas.
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