Wie viel Regulierung verträgt Innovation im Finanzsektor?

Wie viel Regulierung verträgt Innovation im Finanzsektor?

Die Finanzwelt befindet sich inmitten eines fundamentalen Wandels. Künstliche Intelligenz, Blockchain, Open Banking und digitale Zahlungsplattformen bestimmen zunehmend die Richtung. Doch während FinTechs und Start-ups mutig voranschreiten, bleibt eine Frage offen: Wie viel Regulierung ist notwendig – und wie viel ist zu viel?

Als Ökonom, langjähriger Finanzmarktbeobachter und Professor für Finanzmarktregulierung an der Universität Heidelberg, betrachte ich die Entwicklung mit einer Mischung aus akademischer Neugier, regulatorischem Pflichtbewusstsein – und ja, einem gewissen Unbehagen. Die Innovationskraft ist zweifellos beeindruckend. Aber ist sie auch nachhaltig, stabil und fair? Das hängt entscheidend davon ab, ob der regulatorische Rahmen den Spagat schafft – zwischen Förderung und Kontrolle, zwischen Freiheit und Verantwortung.

Innovation braucht Freiräume – aber nicht grenzenlos

Innovation ist der Motor wirtschaftlichen Fortschritts. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern ökonomisches Grundwissen seit Schumpeter. Gerade im Finanzsektor erleben wir, wie technologische Neuerungen bestehende Strukturen herausfordern – oft mit erstaunlichem Tempo. FinTech-Unternehmen agieren dabei nicht selten nach dem bekannten Motto: “Move fast and break things.” Doch vergessen wir eins nicht:

Im Finanzwesen bedeutet „brechen“ nicht bloß ein paar Nutzerkonten – sondern möglicherweise das Vertrauen ganzer Märkte.

Es geht um Sparguthaben, Lebensversicherungen, Altersvorsorge, Investitionen. Wer hier agiert, trägt Verantwortung für das Vermögen anderer. Deshalb ist Regulierung nicht optional, sondern essenziell.

Regulierung als Risikobegrenzung

Ein Kernprinzip der Finanzmarktregulierung ist die Begrenzung systemischer Risiken. 2008 hat eindrucksvoll gezeigt, wohin unkontrollierte Innovation führen kann. Seither hat sich das regulatorische Korsett deutlich verschärft: Basel III, MiFID II, PSD2 – nur einige Beispiele aus dem europäischen Kontext.

Diese Regulierungen haben durchaus ihre Berechtigung. Sie schränken nicht zuletzt Akteure mit fragwürdigen Geschäftsmodellen aus, die lediglich auf blitzschnellen Profit ohne langfristige Strategie aus sind. Aber: Zu viel Regulierung kann auch eine marktverzerrende Wirkung entfalten.

Die Schattenseite strenger Vorschriften

Gerade junge Unternehmen fühlen sich oft von der Bürokratie erdrückt. Wer Innovationen entwickeln will, braucht Agilität, Zugang zu Kapital und eine gewisse Fehlertoleranz – keine 400-seitigen Dokumentationspflichten, bevor überhaupt ein Produkt live geht. Besonders bei Start-ups beobachten wir, wie regulatorischer Druck zu “Innovation by jurisdiction” führt:

  • FinTechs siedeln sich in Ländern mit lockeren Vorschriften an
  • Gründungen werden internationaler, nicht aus strategischen, sondern aus regulatorischen Gründen
  • Europa verliert im globalen Wettbewerb an Dynamik

Doch nun zur Gretchenfrage: Wie viel Regulierung ist das richtige Maß?

Prinzipienbasierte Regulierung statt Mikromanagement

Was wir brauchen, ist eine intelligente, risikobasierte Form von Regulierung, die Innovation nicht abwürgt, sondern gezielt abfedert, wo Risiken entstehen. Und das – ich wage es zu sagen – ist mit dem derzeitigen Regelwerk nicht immer gegeben.

Technologie folgt keinem Gesetzbuch

Die Entstehung von DeFi (Decentralized Finance), NFTs und algorithmischen Stablecoins zeigt, dass Innovationen oft schneller sind als jeder Gesetzgeber reagieren kann. Doch statt panisch neue Gesetze zu erlassen, sollten Aufsichtsbehörden auf gewisse Prinzipien setzen, etwa:

  1. Transparenzpflichten, unabhängig von der Technologie
  2. Verbraucherschutz durch Prüfstandards, nicht durch Verbote
  3. Haftungsklarheit bei automatisierten Systemen

Ein „regulatorisches Sandkastenmodell“, wie es etwa das Vereinigte Königreich mit der Financial Conduct Authority eingeführt hat, kann ein kluger Mittelweg sein: Neue Produkte werden unter kontrollierten Bedingungen erprobt, bevor sie in der Breite zugelassen werden. Deutschland hinkt hier etwas hinterher, auch wenn die BaFin langsam Schritte in diese Richtung unternimmt.

Europa und die globale Dimension

Ein weiterer zentraler Punkt: Regulierung kann nur dann wirksam sein, wenn sie global abgestimmt ist. Schließlich kennen digitale Finanzprodukte keine Grenzen. Während Europa versucht, einheitliche Standards zu schaffen (vgl. MiCA-Verordnung), agieren global viele Akteure aus Grauzonen heraus – insbesondere im Bereich Kryptowährungen.

Fehlen internationale Vereinbarungen, entstehen Regulierungslücken, die gezielt ausgenutzt werden. Besonders gravierend: Plattformen, die Verbraucher weder schützen noch ihre Daten sichern, agieren außerhalb jeglicher Kontrolle und torpedieren das Vertrauen in das gesamte System.

Vertrauen als volkswirtschaftliche Ressource

In einem funktionierenden Finanzmarkt ist Vertrauen nicht nur ein weicher Faktor. Es ist die Grundlage jeder Transaktion. Ob Anleger in einen Fonds investieren, ob Konsumenten eine Wallet nutzen oder ob Unternehmen Kredite vergeben – Vertrauen ist die Währung, die alles zusammenhält. Die Rolle der Regulierung ist es, dieses Vertrauen abzusichern, ohne die Fantasie zu strangulieren.

Schlussfolgerung: Regulierung als strategisches Instrument

Die zentrale Aufgabe von Politik und Aufsichtsbehörden ist es, Regulierung als strategisches, nicht als reaktionäres Werkzeug zu verstehen. Das bedeutet:

  • Mit Technologie-Experten in den Dialog treten statt mit Rechtsanwälten in Endlosschleifen
  • Risiken antizipieren und Simulationsmodelle nutzen statt bloß auf Marktereignisse zu reagieren
  • Testumgebungen schaffen, Feedbacksysteme etablieren und Innovationszyklen verstehen

Nur so kann es gelingen, einen Finanzsektor aufzubauen, der robust und innovativ zugleich ist. Im besten Fall sogar so robust, dass selbst ein Algorithmus mit Allmachtsfantasien keinen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten kann – und so innovativ, dass wir als Gesellschaft vom technologischen Fortschritt unmittelbar profitieren.

Wie also ist die Antwort auf unsere Anfangsfrage?

So viel Regulierung, wie nötig – aber so wenig wie möglich. Entscheidend ist dabei nicht die Menge, sondern die Qualität.

Über Prof. Dr. Klaus-Werner Schneider

Prof. Dr. Klaus-Werner Schneider ist Finanzökonom, Dozent für Finanzmarktregulierung und Kolumnist für Financeone. Mit einem kritischen Blick und steuerbarer Ironie analysiert er internationale Marktentwicklungen und ordnet wirtschaftspolitische Entscheidungen ein. Für den Professor ist eines klar: Nur wer Systeme versteht, kann sie verbessern – oder unterwandern, aber das überlässt er lieber dem Nachwuchs.

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Finanzwissenschaftler mit jahrzehntelanger Erfahrung in Forschung und Beratung. Spezialist für Steuerpolitik und Regulierung, stark analytisch denkend und engagiert für monetäre Stabilität. Veranstaltet Seminare zu Finanzethik und hostet Fachwebinare über Makrotrends.

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